GESCHICHTEN

 

 

Die kleine Maus

Comanschen Erzählung

 

 

 

Die kleine Maus lebte gut aufgehoben und beschützt in einem Familienverband. Dennoch sagte sie eines Tages: 

„Ganz weit weg sehe ich – dort in der Ferne – einen großen roten  Berg.  Ich fühle, dass ich zu ihm hin und auf seinen Gipfel steigen muss!“  Seine Mäusegeschwister und Freunde waren dagegen und sagten zu der kleinen Maus: „Warum willst du solche Beschwerden auf dich nehmen? Hier hast du ein Zuhause, hier hast du Freunde! Es gibt genug zu essen und du bist in Sicherheit. Vergiss diesen verrückten Gedanken!

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Doch die kleine Maus antwortete: „Ich muss mich aufraffen und mir ein neues Ziel setzen. Ich werde auf diesen Berg steigen." All die Warnungen seiner Freunde vor den möglichen Gefahren, die beim Verlassen des Mäusenestes auf sie warten, konnte die kleine Maus nicht in ihrer Entscheidung beeinflussen. Sie packte alles zusammen,  was man für  solch eine Reise benötigt. Wasser, Decken und auch ein großes Stück Käse  fand in ihrem Rucksack Platz. Mutigen Schrittes begann die kleine Maus ihre Wanderung  – voller Zuversicht  dem neuen Ziel entgegen! Die Sonne brannte ohne Erbarmen auf sie nieder. Vor ihr lag eine  riesengroße Wiese, die sie überqueren musste.

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Die kleine Maus dachte an all die Warnungen ihrer Familie und Freunde. Würde ein Bussard sie erwischen und  fressen,  wenn sie ungeschützt über die Wiese rannte? Doch es gab kein Zurück, dafür hatte sie sich schon viel zu sehr abgemüht. Deshalb nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und rannte los. Ihre kleinen Beine rasten über die Wiese. Doch trotzdem erspähte sie ein so gefürchteter Bussard. Nur mit knapper Not entkam sie dessen scharfen Krallen. Nach  diesem Schrecken beschloss die kleine Maus von nun an nur noch bei Nacht ihrem Ziel entgegen zu gehen.  Aber auch in der dunklen Nacht lauerten noch genug Gefahren.

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Weder der Uhu noch die Schlangen schreckten sie zurück. Sie wollte unbedingt das einmal gefasste Ziel – auf den großen roten Berg in der Ferne zu steigen – erreichen.  Da sie in der Nacht nicht so gut sehen konnte und deshalb sehr sorgfältig auf ihren Weg achten musste,  benötigte die kleine Maus viel länger, als sie gedacht hatte. Doch sie gab nicht auf. Völlig erschöpft stellte sich ihr ein scheinbar unüberwindliches Hindernis in den Weg – ein großer, reißender Fluss! Diesen Fluss musste  sie überqueren. Sie war jedoch schon so erschöpft von ihrer Reise, dass sie überlegte umzukehren. Würden ihre Freunde sie dann nicht auslachen? „Wir haben es dir ja gleich gesagt – bleib hier!.

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„Nein, jetzt war die kleine Maus schon so weit gekommen,  sie wollte nicht aufgeben! Aber da war immer noch der reißende, tosende Fluss. Schwimmen konnte sie darin auf keinen Fall –  sie würde ganz sicher ertrinken. Als sie so in Gedanken versunken den Fluss entlang lief und nach einer Möglichkeit suchte diesen zu überqueren, stand plötzlich ein  riesengroßer Büffel vor ihr. „He, Bruder, kannst  du mir über den Fluss helfen?“ fragte die kleine Maus keck den Riesen. „Über diesen reißenden Fluss? Das ist selbst für mich sehr gefährlich. Ich glaube nicht, dass ich dir da helfen kann.“ Die kleine Maus ließ sich nicht entmutigen.

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Ich muss da rüber. Ich gebe dir auch etwas dafür. Aber alleine schaffe ich es nicht. Ich muss zu diesem großen roten Berg, den du dort in der Ferne sehen kannst. “Der Büffel blickte nachdenklich  zu dem roten Berg hinüber und sagte zu der kleinen Maus: „Hmm, wenn du mir eines deiner Augen gibst, dann bringe ich dich hinüber.“ Dabei schaute er die kleine Maus prüfend an. Ohne zu Zögern versprach sie ihm ein Auge. Es war die einzige Möglichkeit an ihr Ziel zu kommen. Mit viel Mühe krabbelte sie in das dicke Fell des Büffels und hielt sich krampfhaft daran fest. Der Büffel stieg vorsichtig in das Wasser, damit seine kleine Fracht nicht herunter gespült würde.

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Die Fluten schlugen über den beiden zusammen und als der Büffel wieder auftauchte, saß die kleine Maus zitternd vor  Angst und Kälte in seinem dichten Pelz. Unter großen Anstrengungen gelang es dem Büffel das andere Ufer zu erreichen und verlangte dann von der kleinen Maus, dass sie ihr Versprechen einlöste. Danach gab er ihr  noch einige gute Ratschläge: „Nimm Wasser mit, denn du wirst durch eine große Wüste kommen.  Gehe in der Nacht,  damit dich die  Geier nicht sehen.“ Die kleine Maus folgte den Ratschlägen des großen Büffels. Sie nutzte jeden Schatten aus, den sie finden konnte. Ganz langsam näherte sie sich so dem Fuße des roten großen Berges. Total erschöpft und beinahe verdurstet erreichte sie die wenigen, schützenden Bäume, die ihr Sicherheit vor den nächtlichen

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Angriffen der Eule boten. Beinahe hatte die kleine Maus ihr Ziel erreicht, doch  sie war zu schwach auf den Berg hinaufzusteigen. Sie wollte von der Spitze des Berges in das Tal herunter schauen. Würde sie es noch schaffen? Plötzlich raschelte es im Gebüsch. Ein Fuchs stürzte sich auf die kleine, erschöpfte Maus und wollte sie fressen. „Warte,“  rief die kleine Maus,  „ich bin so weit gewandert, ich bin seit Wochen unterwegs. Bitte friss mich nicht auf. Der Büffel hat mir über den Fluss geholfen. Hilf du mir bitte auf den Gipfel des Berges hinauf. Ich bin zu schwach, ich kann nicht mehr laufen."

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Der Fuchs überlegte und fragte: „Was gibst du mir dafür?“  Die kleine Maus antwortete: „Ich habe nichts mehr, das ich dir geben könnte.“ „Gib mir dein zweites Auge, dann trage ich dich auf den Berg hinauf.“ Die kleine Maus dachte angestrengt nach. Wenn sie ihr Ziel erreichen wollte, dann musste  sie dieses Opfer bringen. Aber was sollte sie auf dem Berg, wenn sie blind war und nicht mehr ins Tal hinab blicken konnte konnte? Doch sie wusste, wenn sie sich nicht auf den Handel einließ, würde der Fuchs sie auf jeden Fall fressen. So würde sie ihr Ziel nie erreichen.  So entschied  sie dem Fuchs ihr zweites Auge zu geben. Der Fuchs löste sein Versprechen ein und trug sie auf  den Berg hinauf.  Je höher sie kamen,  desto kälter wurde es, desto dünner wurde die Luft. Es lag sogar  noch Schnee.

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Plötzlich zuckte der Fuchs zusammen, machte einen ungewöhnlichen Sprung zur Seite und rannte weg. Die kleine Maus  war  viel zu schwach und konnte sich bei diesen schnellen Bewegungen  des Fuchses nicht mehr festhalten und fiel zu Boden. Sie fragte sich, was den Fuchs wohl veranlasst hatte, so zur Seite zu springen? Im nächsten Moment jedoch hörte die kleine Maus ein lautes unheimliches Rauschen und schon spürte sie  einen durchstechenden Schmerz. Ein Adler hatte sie ergriffen. War jetzt alles vorbei? Verzweifelt und traurig dachte sie daran, dass sie ihr Ziel nun nie erreichen würde.

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Der Adler würde sie wohl nun gleich auffressen und sie hatte ja auch keine Augen mehr um vom Gipfel des großen roten Berges hinab in das Tal zu blicken. Doch das konnte doch nicht alles gewesen sein! Angestrengt begann die kleine Maus ganz tief nachzudenken und da sah sie plötzlich all die weiten Täler am Fuße  des  Berges vor sich. Sie konnte  auf einmal mit ihrem Herzen all die Dinge sehen und erkennen, die sie vorher glaubte nur mit den Augen sehen zu können. Jetzt sah sie Details, die sie zuvor nie beachtet hatte. Die kleine Maus erkannte

 

Wie schön ist doch die Welt   –   man muss nur den Willen dazu aufbringen, dies zu erkennen.

 

 

Quellen:

Comanchen Nation